(Frankreich/BRD/Italien 1980)
Frank Wedekind selbst hatte bereits an der Vereinigung seiner beiden Theaterstücke Der Erdgeist und die Büchse der Pandora in einem einzigen Stück gearbeitet, war aber mit dem Ergebnis unzufrieden und revidierte es vor seinem Tode 1918 mehrfach. Von den beiden Stücken hatte das zweite „Die Büchse der Pandora“ bereits bei seiner Uraufführung 1904 in Nürnberg Probleme mit der Zensur, bei der zweite Aufführung im liberalen München wurde es verboten und die gedruckten Bücher als „unzüchtig“ beschlagnahmt und vernichtet, Wedekind und sein Verleger wurden aber in einem mehrjährigen Prozess von dem Vorwurf der „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ 1906 freigesprochen, was aber den Marktwert Wedekinds als Autor für den Simplizissimus und seine Theaterstücken deutlich erhöhte.
Bereits während des ersten Weltkrieges entstand in Ungarn der erste Stummfilm über die Figur der Lulu, einer Frau, die allen Männern die Köpfe verdreht und dadurch irgendwie vorzeitig ins Grab bringt, und ihrem Schicksal, eines kometenhaften Aufstieg in der Gesellschaft aufgrund ihrer Kombination aus Schönheit und Ausstrahlung und dem folgendem Fall bis zu ihrer Ermordung als Straßendirne durch Jack the Ripper; weitere, auch eine mit Asta Nielsen, sollten folgen. G.W. Papst verfilmte die Büchse der Pandora 1928 mit Louise Brooks, Alban Berg[1] schuf aus dem Stoff seine Oper Lulu, die aber erst einmal nur als Fragment 1937 aufgeführt werden sollte, da er vor Vollendung der Komposition verstarb. 1979 wurden dann die fehlenden Stellen von Friedrich Cerha aus den vorhandenen Skizzen rekonstruiert.
Mit dieser Werk- und Wirkungsgeschichte verwundert es nicht, dass sich auch andere Regisseure dieses Stoffes auf ihrer Art befasst haben, 1980 auch Walerian Borowczyk, der in den 1970ern in seinem französischem Exil mehr als einen Filmskandal verursacht hat. Die Filmkritik im allgemeinem sieht in diesem Film einen Wendepunkt in seiner Karriere, entweder als den letzten seiner guten oder den ersten seiner schlechten Filme. Doch in meinem Augen treffen die Vorwürfe seiner Kritiker nicht zu. Der Film ist kein Remake von Pabsts Klassiker, sondern er ist eigentlich ein Theaterstück, das auf die Leinwand gebracht wurde. Jeder der Akte spielt in einem Set, für jeden der Akte gilt auch die Einheit der Zeit. Die Figuren wirken in ihrer Diktion wie Bühnenschauspieler auf einer Theaterbühne, ihre Gestik, wenn auch maneriert, hingegen ist dem Medium Film angemessen. Borowczyk hat auch in seinen vorhergehenden Filmen wie Unmoralische Geschichten und das Biest immer mit einem relativ breiten Pinsel gemalt, und eines seiner Lieblingsobjekte waren junge Frauen. So nimmt es unschwer Wunder, dass die Hauptdarstellerin Anne Bennent[2] häufig unbekleidet vor der Kamera agiert, für den Skandal, der Film entsand in der freizügen prä-AIDS-Zeit[3], sorgte eher, dass ihr Vater Heinz Bennent den Dr. Schoen, einen von Lulus zu Tode gekommenen Liebhaber, spielte. Sie ist jetzt keine Frau, die durch ihre Figur alle Männer umwirft, doch ihre jugendliche Unbekümmertheit unterstützt ihr Körper bei der Behauptung der Unwiderstehlichkeit[4], man denke auch an Zolas Nana. Der Film ist noch kein Softcore[5], aber manche Einstellungen könnte man auch bei Jess Franco finden.
[1] Er kannte das Stück seit seiner Wiener Erstaufführung 1905 (sic).
[2] Anne Bennent, Schwester des Oscarpreisträgers David Bennent (Die Blechtrommel) war bei den Dreharbeiten noch keine 18 Jahre alt, was theoretisch Probleme mit §184 StGB machen könnte, man denke nur an die Indizierung des ersten Schulmädchenreports.
[3] Die Prüderie setzte erst nach dem Zusammenbruch des Ostblockes wieder ein, ob dies eine Nachwirkung der Erziehung durch 1968er oder nur ein einfaches Zugrückpendeln ist, überlasse ich Soziologen.
[4] ähnlich wie bei Anna May Wong in Piccadilly.
[5] wie Borowczyk bislang letzer Kinofilm Emanuelle 5.
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